Ich hoffe Sie hatten schöne Osterferien oder zumindest schöne Feiertage. Wer erst in der letzten Woche nach den Ferien wieder am Start war und auf die Energiepreise geschaut hat, wird sich bereits die Augen gerieben haben, besonders aber in dieser Woche. Seit Karneval, wo Strom cal 25 unter 70 €/MWh notierte und CO2 bzw. EUA Dec 24 bei ca. 52 €/t, ging der Lift steil nach oben, um jeweils ca. 20 €/MWh bzw. 20 €/t. Erdgas blieb vergleichsweise stabil bei einem Zuwachs von 27 €/MWh auf knapp 37 €/MWh (alles Stand vom 16. April 2024). Damit wäre die Nervosität zurück, von der wir glaubten, sie hätte sich seit Jahresanfang etwas gelegt. Auch scheint unsere Frage aus der Februar-Ausgabe, ob der Boden erreicht war, zumindest vorerst beantwortet. Wie es weitergeht, bleibt spannend.
Bei all diesen kurzfristigen und sehr volatilen Geschehnissen sollten Sie den Blick auf die langfristigen Produkte nicht vernachlässigen. Cal 28 und cal 29 liegen beim Erdgas ca. 10 €/MWh unter cal 25, also aktuell bei ca. 27 €/MWh. Ähnlich sieht es beim Strom aus. Um das Ganze zu verbildlichen, sollten Sie sich folgende Frage stellen: Wenn Sie aktuell für ein E-Auto 30.000 € zahlen sollen, das nächstes Jahr ausgeliefert wird (auf meins musste ich zwei Jahre warten) und Sie gleichzeitig das gleiche Modell in seiner dann aktuelleren Version in vier Jahren für knapp 22.000 € (bzw. nach heutigem Geldwert ehr knapp 20.000 €) erhalten, wie würden Sie entscheiden? Klar, der Vergleich hinkt etwas, aber die Überlegung am langen Ende in die Absicherung einzusteigen, macht Sinn, weil die Volatilität hoch bleiben wird. Das bedeutet aber in den meisten Fällen zuerst die Entwicklung einer langfristigen Beschaffungsstrategie, dann die Prüfung und ggf. die Umstellung von Energielieferverträgen sowie die Suche nach Lieferanten, die diese Produkte überhaupt anbieten. Spätestens beim letzten Punkt wird es eng und wenn sich ein Bieter findet, dann vermutlich zu deutlich höheren Preisen als zu den veröffentlichten Notierungen.
Oder Sie gehen neue Wege und beschaffen Ihren Bedarf über die europäische Gasbeschaffungsplattform AggregateEU. Im Januar 2023 haben wir Ihnen den Tipp gegeben, sich näher mit dieser Option zu befassen und vor einem Jahr startete die erste Gebotsrunde für „Short-Term-Tender“. Seitdem sind wir im engen Austausch mit der von der EU-Kommission eingesetzten Task-Force, um auch Letztverbrauchern aus der Industrie die Teilnahme nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu ermöglichen. In der Folge wurden nach den Short-Term-Tender im Februar dieses Jahres zum ersten Mal „Mid-Term-Tender“ mit Lieferzeiträumen bis 2029 angeboten. Wir haben dieses Jahr genutzt, erste Kunden auf die Plattform zu bringen und zuvor alle notwendigen Voraussetzungen zur Teilnahme zu schaffen. Die Ergebnisse des ersten „Mid-Term-Tender“ übertreffen die Erwartungen und die ersten Abschlüsse stehen bevor - kein Wunder, das Angebot war dreimal so hoch wie die Nachfrage.
Jetzt wird die Plattform weiterentwickelt. Zunächst prüft die Kommission, nach den Mid-Term-Tendern auch „Long-Term-Tender“ mit noch längeren Laufzeiten anzubieten (besonders Exporteure von US-LNG haben ihr Interesse bekundet) und dazu das über die Plattform angebotene (Erd-)Gas zu „vergrünen“. Zu Beginn dadurch, dass die Methanemissionen vom Bohrloch bis zum Marktgebiet gemessen und transparent gemacht werden und eventuell nur solche Unternehmen anbieten dürfen, die sich z. B. der OGMP 2.0 Initiative anschließen, um diese sehr klimaschädlichen Emissionen zu reduzieren. Das nächste Ziel wird die Beschaffung von „grünen Molekülen“ sein, also z. B. von Biomethan bzw. grünem Wasserstoff und seinen Derivaten. Jedenfalls scheinen seitens der EU alle Schritte unternommen zu werden, um das Ziel einer klimaneutralen Energieversorgung der Industrie als Alternative zur kompletten Elektrifizierung zu ermöglichen. Die Abgeordneten des EU-Parlamentes haben jedenfalls am 11. April 2024 die Pläne gebilligt, die die verstärkte Nutzung erneuerbarer und CO2-armer Gase, einschließlich Wasserstoff, auf dem EU-Gasmarkt erleichtern sollen. Die neue Richtlinie und die Verordnung über den Gas- und Wasserstoffmarkt zielen darauf ab, den Energiesektor der EU zu dekarbonisieren und die Produktion und Integration von erneuerbaren Gasen und Wasserstoff zu fördern. Mit den Beschlüssen wurde auch AggregateEU - ursprünglich als Reaktion auf die Gaskrise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ins Leben gerufen - institutionalisiert. So wie es aussieht, wird uns AggregateEU weiter begleiten und mehr Raum bekommen. Und dass, obwohl der Energiehandel AggregateEU immer wieder abgelehnt hat („Wir brauchen das nicht, der Markt regelt das“) und auch von den Grünen im EU-Parlament in diesen Kanon eingestimmt wurde. Ohne Details der EU-internen Diskussion zu kennen, ist es aber wohl besonders auf Drängen der südosteuropäischen Länder in der EU dazu gekommen, dieses Instrument beizubehalten und weiterzuentwickeln.
Auch wenn sich die aktuelle politische Stimmungslage in Deutschland in Bezug auf grüne Moleküle erst zögerlich wieder verbessert (mit Ausnahme von grünem Wasserstoff, der nicht zur Disposition stand), so wird zunehmend klar, dass die Risiken von PPA deutlich höher sind als zunächst gedacht und statt einem wirtschaftlichen Vorteil auch einen erheblichen Nachteil und großen administrativen Aufwand bedeuten können - besonders bei langfristigen PPA mit direktem Stromanschluss in die Produktion. Dazu darf nicht ausgeblendet werden, dass die Systemkosten für Strom wie z. B. Netzentgelte in den kommenden Jahren raketenartig ansteigen werden („moonen“). Bei den grünen Molekülen hingegen können große Teile der bestehenden Erdgasinfrastruktur weitergenutzt werden. Klar, dass nicht jeder Teilbereich in den Verteilernetzten den Umbau überleben wird, aber totgesagte leben bekanntlich länger.
Fazit: Nicht nur auf der Stromseite nimmt die Dekarbonisierung Fahrt auf, sondern auch auf der Gasseite. Die klimarelevanten Aspekte werden schrittweise aufgegriffen, beginnend bei der Vermeidung von Methanemissionen bei Förderung und Transport bis hin zur perspektivischen Ablösung von Erdgas durch „grüne Moleküle“. Bis es so weit ist, vergehen noch einige Jahre, für große Letztverbraucher vermutlich auch noch ein paar mehr. Daher drängt es sich förmlich auf, diese Beschaffungsoption im Portfolio zu haben. Neben den Preisvorteilen durch den direkten Kontakt zu den Produzenten und langfristige Absicherungsmöglichkeiten lässt sich eine zusätzliche Preis- und Versorgungsicherheit als Alternative zu strombasierten Wärmeanwendungen beibehalten und ein weiterer Baustein in Richtung klimaneutralem Wirtschaften ergänzen.