Bis vor Kurzem war ich noch der Überzeugung, der Spruch „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ käme aus dem Sauerland. Er hat seinen Ursprung aber vermutlich beim Militär. Der Überlieferung nach wurde öfters befohlen, dass eine Truppe zwecks Tarnung in einen Kartoffelacker einrücken soll, während bald darauf der Befehl kam, den Acker zur Vermeidung von Schäden wieder zu räumen. Also erst Hü, dann Hott.
Das BMWK, das seit langem das W im Kürzel vernachlässigt, hat sich dieses Motto anscheinend zu eigen gemacht. Nach immer größerem öffentlichem Druck wurde die stark kritisierte „Erdgasbeschaffungsumlage“ gemäß § 26 EnSiG zurückgenommen. Das Gerangel um die Verteilung der Mehrkosten ist ein plakatives Beispiel dafür, wie es in Berlin abläuft: Ein Problem tritt auf und die Verbände werden aktiv. In diesem Fall BDEW und VKU, die reflexartig befürchteten, dass ihre Mitglieder als Lieferanten auf den gestiegenen Kosten der Gasbeschaffung sitzen bleiben. Sie haben ihre Lobbyisten unverzüglich ins BMWK geschickt, um dort den § 24 EnSiG vorzuschlagen, der diese Kosten direkt auf die Letztverbraucher gewälzt hätte. Bereits in unserer Mai Ausgabe haben wir den Kopf darüber geschüttelt und noch gefragt, wer auf solche Ideen kommt – heute sehen wir die Zusammenhänge klarer. Die nicht so nah am Mitarbeiterstab von Herrn Habeck sitzenden Verbände, die die Interessen der größeren Energieverbraucher vertreten, haben noch eine Weile gebraucht, um die Konsequenzen von § 24 zu durchleuchten und sich mit Verspätung in Stellung gebracht, um das Schlimmste abzuwenden. Heraus kam § 26, der zumindest eine gleichmäßige Verteilung der Kosten vorgesehen hätte, aber doch nur die zweitschlechteste Lösung war. Als dann die Vertreter der kleineren Verbraucher, wie Verbraucherzentralen und Sozialverbände, das Problem realisiert haben, wurde auch § 26 gekippt. Heraus kam eine „Unabhängige ExpertInnenkommission Gas und Wärme“ mit dem Ergebnis des noch nicht im Detail ausgearbeiteten „Gaspreisdeckels“, finanziert durch ein Sondervermögen, das der Steuerzahler irgendwann zu begleichen hat. Zu den ExpertInnen zählen 21 VertreterInnen aus Gesellschaft und Politik, Lehre und Forschung, Energieversorgern, Kirche und Gewerkschaften. Jedoch kein einziger Vertreter der energieintensiven Industrie - immerhin rund ein Drittel des Energieverbrauchs in Deutschland. Den BDI und den DIHK zählen wir - sorry, nach alledem, was dort bereits zum Thema verkündet wurde - nicht zu den durchsetzungsstarken Interessenvertretern des energieintensiven Mittelstandes.
Warum das für Sie als großer Energieverbraucher wichtig ist? Weil Sie die Konsequenzen der dort getroffenen Entscheidungen in mehrfacher Weise treffen. Fast jede strittige (energie-)politische Entscheidung muss mittlerweile als unverbindlich angesehen werden, bis schlussendlich eine Kommission eingesetzt wird, die einen Kompromiss aushandelt. Als Letztes fehlt noch die Einsetzung einer Führungskommission, um die Verantwortung für das Regierungshandeln komplett zu delegieren. Bis dahin dürfen die Betroffenen alle unausgegorenen Vorschläge für sich ausrechnen und die Umsetzung vorbereiten, was die Kapazitäten sowohl bei Lieferanten als auch bei Verbrauchern und Beratern bindet. Das Hü und Hott schürt also Mehrbelastung und Unsicherheit in einer Zeit, die nach Berechenbarkeit verlangt. Die Debatte um die Laufzeitverlängerung der AKWs geht in die gleiche Richtung, die Abschöpfung der so genannten „Übergewinne“ zur Finanzierung des Gaspreisdeckels ebenfalls und von dem fälschlicherweise als „Industriegasauktion“ bezeichneten Regelenergieprodukt ganz zu schweigen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Genug der ausführlichen Einleitung, für Sie stellt sich die Frage, wie Sie Ihre Beschaffungsstrategie ausrichten können - unter folgende Rahmenbedingungen:
- Politische Entscheidungen im Bereich Energie- und Klimapolitik haben eine geringe Halbwertzeit.
- Die Regulierungsflut und die teils unrealistischen, denn zu kurzfristigen bzw. zu ambitionierten Zielsetzungen werden für Sie deutlichen Mehraufwand bedeuten.
- Zunehmenden Markteingriffe machen eine Prognose der Energiepreisentwicklung schwierig bis unmöglich.
Besonders der letzte Punkt spiegelt sich bereits in den Marktpreisen wider. An einem konkreten Beispiel wollen wir verdeutlichen, was Sie in den kommenden Monaten - vielleicht auch Jahren - erwartet. Nachdem die von Knappheit, Ängsten und Algorithmen getriebenen Höchstpreise für das kommende Jahr - über 1.000 €/MWh beim Strom und über 300 €/MWh beim Erdgas - sich aktuell mehr als halbiert haben, ist eine Formation sehr auffällig: Während der Day-Ahead Gaspreis (THE) (Spotmarkt) auf ca. 40 €/MWh gefallen ist, bleibt der Preis für das Terminprodukt Cal-23 bei ca. 150 €/MWh stehen. Ähnlich beim Strompreis, wo der durchschnittliche Day-Ahead bei ca. 120 €/MWh notiert, Cal-23 (Base) aber weiter an die 400 €/MWh reicht. Die Gründe für den niedrigen Gaspreis im Day-Ahead sind die durch das Gasspeichergesetz prall gefüllten Speicher und der geringe Verbrauch aufgrund der aktuell relativ warmen Wetterlage. Damit kann das „überschüssige“ Erdgas günstig verstromt werden, wodurch der Strompreis im Spotmarkt folgt. Sobald es wieder deutlich kühler wird, werden wir wieder einen starken Anstieg im Day-Ahead sehen. Wer jetzt noch einen leeren Gasspeicher hat, könnte seinen Bedarf für das kommende Jahr also günstig eindecken! Erst wenn es gelingt, die Terminmarktpreise wieder in akzeptable Preisregionen zu drücken, können wir von einer erfolgreichen Energiepolitik sprechen. Wie das gelingen kann, haben wir in unserer September-Ausgabe beschrieben. Hoffen wir, dass dieser Winter mild wird und uns das Schlimmste erspart bleibt. Die Frage nach der Strategie ist damit noch nicht beantwortet. Die ist für jedes Unternehmen individuell zu entwickeln und besonders davon abhängig, was ihr aktueller Vertrag hergibt. Sollten Sie 2023 noch keinen Vertrag haben, wird es eng. Da hilft nur ein individuelles Gespräch. Alle diejenigen, die einen länger laufenden Vertrag haben, sollten jetzt ihre Strategie für die ggf. noch offenen Tranchen bzw. Positionen erarbeiten. Sie alle sollten sich aber bereits jetzt Gedanken machen, wie das richtige Beschaffungsmodell für den Anschluss aussieht. Die Vollversorgung im Rahmen eines Tranchenmodells, wie sie heute noch üblich ist, wird es vermutlich nicht mehr sein. Die richtige Strategie bietet gerade hier auch große Chancen.
Fazit: Erst Hü, dann Hott. Das BMWK lässt sich zu sehr von Lobby-Verbänden beeinflussen, statt eine klare Strategie zu verfolgen. Durch kleinteilige Regulierungsflut werden Lieferanten und Verbraucher in Zeiten von Personalengpässen mit teils unnötigem Mehraufwand konfrontiert. Das hat gravierende Auswirkungen auf energieintensive Verbraucher, weil sie neben gestiegenem Aufwand erhebliche Unsicherheiten in ihrer Beschaffungsstrategie in Kauf nehmen müssen. Wenn die Energiewende in immer kürzerer Zeit gelingen soll, ist genau das Gegenteil notwendig: eine klare Strategie, verlässliche Rahmenbedingungen, weniger Bürokratie, realistische Umsetzungszeiträume und vor allem weniger Markteingriffe, die die Nebenwirkungen der Regulierungsflut wieder reparieren sollen. Besinnen wir uns wieder auf das, was uns in den letzten Jahrzehnten nach vorne gebracht hat: Mehr Pragmatismus und weniger Bürokratie. Dann geht es viel schneller zur klimaneutralen Gesellschaft: accelerate change!
Ich wünsche Ihnen viel Optimismus!