Wenn sich die Begrifflichkeiten in einem Bereich ändern oder neue Wortschöpfungen auftauchen, ist das oft Ausdruck eines geänderten Denkens. In der Energiepolitik finden sich aktuell viele Begriffsänderungen, die auf veränderte Verhältnisse bzw. neue Zeiten hinweisen. Ein Beispiel ist die Vermeidung des Begriffes „Grundlast“, da er suggerieren könnte, wir bräuchten in Zukunft weiter grundlastfähige Kraftwerke, um die Energiewende zu meistern. Da aber Strom aus Erneuerbaren jetzt und zukünftig der Protagonist ist, wird die Grundlast gestrichen und die „Residuallast“ zur Nachfolgerin erkoren. Diese ist zuständig, die Lücken in der Stromversorgung zu schließen, bis die Erneuerbaren allein die Energieversorgung sichern.
Die (für mich) jüngste Neuschöpfung ist also „einlastbare Kraftwerke“. Nach kurzer Onlinerecherche fand sich u. a. folgende Erklärung für den Begriff: unabhängig vom Wetter steuerbare Kraftwerke wie Wasserstoff- oder Biomasse-Kraftwerke oder auch Speicher. Nach meinem Verständnis handelt es sich also um Residuallastkraftwerke, die (möglichst) auf fossile Energieträger verzichten. Nebenbei fällt auch auf, dass „regelbare“ durch „steuerbare“ Kraftwerke ersetzt werden. Warum diese detaillierte Vorrede? Weil diese Veränderungen auf Entwicklungen hinweisen, die sich bald bei Ihnen bemerkbar machen werden und Ihre Aufmerksamkeit erfordern: es geht um die Reform des Strommarktdesigns bzw. das „Klimaneutrale Stromsystem“. Immerhin müssen bis 2030 ca. 25 GW regel- bzw. steuerbare Kapazitäten zugebaut werden, die Kraftwerksstrategie dazu soll schon im Frühjahr 2023 vorliegen. Dabei wird die europäische Diskussion aktiv verfolgt und berücksichtigt. Ziel ist es, den prognostizierten Strombedarf in Deutschland von jetzt 550 TWh/a auf 750 TWh/a im Jahr 2030 und 1.000 TWh/a im Jahr 2050 mit einem immer höheren Anteil an Erneuerbaren Energien (EE) zu decken.
Die erste Veranstaltung des BMWK am 20. Februar 2023 stellte den Auftakt für den weiteren Prozess dar. Über 100 Teilnehmer aus BMWK, Bundeskanzleramt, BNetzA, Bundesländern, Verbänden, NGOs, Beratungsunternehmen, Netzbetreibern, etc. waren versammelt. Auch wenn Minister Habeck diese Sitzung als Grundsatzdebatte ohne Denkverbote eröffnet hat und derzeit aus deutscher Sicht keine weitgehenden Markteingriffe geplant sind (Beibehaltung des Merit-Order-Prinzips), wird sich vermutlich vieles verändern. Es werden Ende Juni ein Sommerbericht und Ende September ein Winterbericht mit Zwischenergebnissen erwartet. Es wird eine Plattform mit vier Arbeitsgruppen und einem Plenum aufgebaut. Die Arbeitsgruppen starten im April. Die Schwerpunkte der Arbeitsgruppen sind Erneuerbare Energien, Flexibilität, Versorgungssicherheit und lokale Besonderheiten. Der letzte Punkt ist noch nicht in der öffentlichen Diskussion angekommen. Es gibt bereits Länder in Europa, die über mehrere Gebotszonen verfügen. Schweden wurde beispielsweise in vier Marktgebiete aufgeteilt, innerhalb derer die Strompreise je nach aktueller Netzsituation unterschiedlich sind. Dies bedeutet, dass die Strompreise in den meisten Fällen zwischen den verschiedenen Gebotszonen identisch sind, an Tagen enormer Netzauslastung jedoch variieren können. In Deutschland jedoch könnte eine Aufteilung der Gebotszonen weitreichende wirtschaftliche Auswirkungen auf den industriell geprägten Süden mit zeitweise höheren Strompreisen als in Norddeutschland haben. Aus diesen Gründen wurde eine vorschnelle Teilung bislang abgelehnt. In diesem Punkt hat jedoch die EU-Kommission das Sagen, die einer Aufteilung der deutschen Gebotszone positiv gegenübersteht. Die finale Entscheidung dazu wird für Sommer 2024 erwartet.
Themen wie eine systemdienliche Netzentgeltsystematik, die EE-Förderung durch Contracts for Difference (CFD) und ein Industriestrompreis werden ebenfalls auf der Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ behandelt. Über dem Ganzen schwebt dann noch die große EU-Strommarktreform, die bis zu den Wahlen des Europäischen Parlaments im Frühjahr 2024 beschlossen werden soll. Die EU-Kommission bereitet derzeit eine Überprüfung der EU-Strommarktregeln vor und argumentiert, dass das bisherige Design des EU-Strommarkts den Hochpreisphasen im vergangenen Jahr Vorschub geleistet hat. Die EU-Kommission hat die Reform zu einer Priorität erklärt und veröffentlicht am 16. März 2023 erste konkrete Vorschläge. Die deutsche Regierung hat auf EU-Ebene signalisiert, dass sie um einen zeitlichen Aufschub bittet und wenn nötig, nur mit einer kleinen Reform starten möchte. Erst in einem zweiten Schritt solle man in einem vertieften Diskussionsprozess weitergehende Änderungen des Marktdesigns vornehmen. Die EU-Kommission und eine größere Allianz von Ländern unter Führung von Frankreich und Spanien lehnen diese zeitliche Streckung ab und favorisieren einen Abschluss der Reform vor den Europawahlen im Frühjahr 2024. Sie wollen den Markt grundsätzlich stärker regulieren und das Merit- Order-Prinzip durch eine Zweiteilung des Marktes aushebeln: ein Markt für CO2-arme Energieträger sowie ein Markt für konventionelle Energieträger. Sie bezeichneten das System als ungerecht, da es die Preisbildung von fossilen Brennstoffen wie Kohle und Gas diktieren lasse.
Fazit: Der Strommarkt steht vor dem Umbruch. Die Richtung wird durch die nationale und die EU-Politik vorgegeben. Die Regulierung wird zunehmen, der Markt wird komplexer. Die Strompreise werden durch die enormen Kapitalkosten vermutlich steigen, auch wenn Wind und Sonne „keine Rechnung schicken“, in jedem Fall werden sich die Netzentgelte verteuern. Ob und welche Umschichtungen (z. B. eine Wärmepumpen-Umlage) oder Preiseingriffe der Gesetzgeber vornimmt, ist heute nicht absehbar. Insofern kann man sich zum aktuellen Zeitpunkt nur an den Terminmarktpreisen für die kommenden Kalenderjahre orientieren. Und die sind aktuell für die kommenden Jahre rückläufig, da der Markt noch eine Weile von rückläufigen Erdgaspreisen als preisbestimmend für die Stromerzeugungskosten ausgeht. Aber der Terminmarkt, das hat sich nicht nur in naher Vergangenheit gezeigt, hat sich schon öfter getäuscht.