Wer zwei Wochen verreist ist und dank eines zuverlässigen Teams abschalten konnte, kann folgendes feststellen: 1. Urlaub ist die Abwesenheit vom Alltag und die Zeit vergeht höchstens halb so schnell wie im Büro. 2. Man kann sich entspannter Gedanken über die aktuellen Entwicklungen und die Großwetterlage machen als im Büroalltag, besonders zu energiepolitischen Entscheidungen. 3. Wenn man wieder im Büro ist, wundert man sich, wie die Karten in Energiepolitik und -wirtschaft wöchentlich neu gemischt werden – womit wir beim aktuellen Thema sind: der gerade durch Minister Habeck ausgerufenen Alarmstufe am Gasmarkt (dabei hatten wir gehofft, dass nach den akzeptierten Rubelkonten etwas Ruhe einkehren würde).
Auf die Gründe der Ausrufung, im Wesentlichen die Reduzierung der Gaslieferung durch Nord Stream 1, will ich hier weiter nicht eingehen, da die Tagespresse hierzu berichtet. Die wichtigste Nachricht ist jedoch, dass die einseitige Preisanpassung nach § 24 EnSiG noch nicht umgesetzt wird, da bislang noch keine erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen festgestellt wurde. Minister Habeck erklärte aber, dass jetzt mit weiter steigenden Preisen gerechnet werden muss. Wie könnten also die kommenden Wochen und Monate aus der Perspektive eines großen Letztverbrauchers aussehen, wenn die Preisanpassung nach § 24 EnSiG kommt oder gar die Notfallstufe ausgerufen wird? Die Annahmen, die wir bei unserem Antwortversuch voraussetzen, sind folgende: a.) Der Transport durch Nord Stream 1 bleibt stark reduziert oder wird nach Beginn der Wartungsarbeiten am 11. Juli nicht wieder aufgenommen und die fehlenden Mengen können auch nicht kurzfristig ersetzt werden. b.) Alternative Transportrouten für russisches Gas werden nicht genutzt. c.) Die Preise an den Handelsplätzen steigen nochmals deutlich an, besonders nach Ausrufung der Notfallstufe.
Zunächst betrachten wir die Gesetze und Maßnahmen, die vom BMWK in der letzten Woche auf den Weg gebracht wurden: 1. Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz – der sperrige Name bedeutet, dass alte Kohlekraftwerke wieder ausgemottet und weiter betrieben werden und in der Folge die Gasverstromung eingeschränkt wird. Aus Gaseinsparsicht ein wichtiger Schritt, da ca. 10-15 % des Erdgases hierzulande verstromt werden – für die Umwelt und die Glaubwürdigkeit der Umweltpolitik jedoch eine Demütigung. 2. Gasauktionsmodell zur Reduktion von Industriegas – Betriebe sollen ihrem Lieferanten mögliche Abschaltpotentiale im Rahmen einer Auktion anbieten. Das Modell ist noch im Konzeptstatus, soll jetzt zügig ausgearbeitet werden und schnell an den Start gehen. 3. Programm zur temporären Energiekostendämpfung für Unternehmen – von ca. 5 Mrd. € Beihilfen ist die Rede.
In unserem Szenario erfolgt die Ausrufung der Notfallstufe, wenn in der 2. Julihälfte nach Wartung der Nord Stream 1 kein oder nur noch wenig russisches Gas nach Deutschland geliefert wird. Der Erdgaspreis für kurzfristige Produkte bis zu Cal 2023 steigt auf über 150 €/MWh. Um das vorhersehbare Chaos aus Lieferkettenunterbrechung, Kurzarbeit etc. zu vermeiden, wird vorerst auf eine Abschaltung von ungeschützten Gasverbrauchern verzichtet. Stattdessen geht das eilig entwickelte Auktionsmodell in den Markt. Große internationale Industriekonzerne, die ihre erdgasbasierten Vorprodukte alternativ am Weltmarkt beschaffen können (z. B. aus dem Chemiebereich), berechnen den Auktionspreis für ihre Gasreduzierung zuzüglich auskömmlicher Sicherheiten und erhalten in der ersten Auktionsrunde den Zuschlag. Die Bundesregierung bezeichnet die Auktion als großen Erfolg, auch wenn für diese Mengen Extrempreise bezahlt werden, die auf alle Verbraucher umgelegt werden. Für diese Unternehmen, die ihr Gas zumeist auf günstigen Niveaus finanziell „gehedget“ haben lohnt, sich die Teilnahme doppelt: Für die „verauktionierten“ Mengen realisieren sie beim Glattstellen der „Hedges“ hohe Gewinne.
Anders bei den energieintensiven mittelständischen Kunden. Sie sind häufig an Tranchenverträge gebunden und haben gar nicht die personellen bzw. organisatorischen Voraussetzungen an der Auktion teilzunehmen. Sie sind darauf angewiesen, dass ihr Berater oder Lieferant ihnen das Procedere erklärt. Viele Fragen sind jetzt schon offensichtlich, z. B.: welche Mengen werden als Basis für die Auktion genommen - die Vertragsmenge oder die obere Toleranzmenge? Für welchen Zeitraum nehme ich an der Auktion teil? Zu welchem Preis soll ich anbieten?
Ausgehend davon, dass die Auktion eher Sache der größten Verbraucher und einiger Sonderfälle (Umstellung auf andere Brennstoffe) sein wird, kommt im August der Lieferant mit seinem Preisanpassungsbegehren, da er die in der Lieferkette fehlenden russischen Gasmengen teuer am Spotmarkt nachbeschaffen muss. Berechnungen haben wir in unserer letzten Ausgabe angestellt. Zähneknirschend muss der Kunde einer Verdopplung oder im schlimmsten Fall Vervielfachung seines Preises zustimmen: hat er für 2022 im Jahr 2020 zu 15 €/MWh beschafft und der Lieferant muss 20 % seiner Mengen zu 150 €/MWh nachbeschaffen, macht das ca. 42 €/MWh als neuen Preis. Auch hier tauchen viele Fragen auf, z. B.: hat derjenige Kunde einen Vorteil, dessen Lieferkette nur norwegisches Gas kontrahiert hat und derjenige einen Nachteil, dessen Lieferkette russisches Gas bezog? Wir befürchten ein heilloses Durcheinander und erwarten erhöhtes Arbeitsaufkommen für Energiejuristen bei Eintreten von § 24 EnSiG. Die Infoschreiben der Kanzleien sind bereits unterwegs.
Die nächste Eskalationsstufe kommt, wenn es aufgrund des Gasmangels tatsächlich an die Abschaltung der ungeschützten Verbraucher (= Industriebetriebe) gehen sollte. Wird der nächste Winter streng und - wie in letzter Zeit so oft - sich die Umstände am Energiemarkt nicht in Richtung Entspannung bewegen (z. B. ungeplante Wartungsarbeiten), könnte es eng werden. Dazu der Energiepreisschock ab Anfang 2023, wenn sich die Tarife für die meisten privaten Verbraucher verdoppeln und die Beschaffungskosten für viele große Letztverbraucher teilweise verdrei- bis vierfachen, auch beim Strom. Der enorme Druck, der auf unsere Regierung zukommt, ist bereits jetzt spürbar – ich möchte nicht tauschen und wünsche den Akteuren trotz meiner kritischen Anmerkungen zu den geplanten Maßnahmen in unser aller Interesse Erfolg bei ihrem Handeln.
Warum vertreten wir keine positivere Sichtweise? ecotec sieht sich nicht nur als Berater, sondern auch als Interessenvertreter großer Letztverbraucher, die vorwiegend im Mittelstand verankert sind und auf deren Herausforderungen wir aufmerksam machen wollen. Wir sehen ein großes Defizit in deren energiepolitischer Vertretung bzw. Interessenwahrnehmung in Berlin. Während die kleineren und größeren 3- oder 4-Buchstabenverbände versucht haben ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, sieht es so aus, dass der energieintensive deutsche Mittelstand der größte Verlierer der Energiekrise werden könnte. Was diese Verbände und die Regierung aber nicht verstanden haben ist, dass das Abladen der Probleme bei der Industrie wie ein Bumerang auf sie zurückkommt. Bei dem, was diesen Unternehmen und unserer Wirtschaft in der Konsequenz droht, sind die geplanten 5 Mrd. € Beihilfe ein Trostpflaster. Die von der Regierung eilig beschlossenen Maßnahmen zu Preisanpassung und Abschaltreihenfolge werden jedenfalls sehr viele Fragen nach sich ziehen und werden, wie bereits bemerkt, Juristen und die hierzulande bereits überlasteten Gerichte beschäftigen – kann das gewollt sein? Unser Vorschlag aus der April-Ausgabe ist leider in Regierungskreisen nicht gelesen oder durchdacht worden: Der Erdgaspreis (Beschaffung) wird im Jahr 2023 auf 40 €/MWh gedeckelt, der Strompreis auf 80 €/MWh – für alle Verbraucher ohne Ausnahme – „what ever it takes“! Das entspricht in etwa einer Verdopplung des Preises von 2019 bis 2021. Wer günstiger eingekauft hat, behält seinen Vorteil, wer teurer eingekauft hat, dessen Mehrkosten übernimmt der Staat. Im Jahr 2024 könnte das Pärchen 60 bzw. 120 €/MWh lauten. Das ließe sich einfach umsetzen, der Kunde zahlt seinen Anteil und den überschüssigen Anteil stellen die Lieferanten Finanzminister Lindner in Rechnung, der ein „Sondervermögen“ einrichtet und mit der „Erneuerbaren-Rendite“ ab 2045 tilgt. Die vorgeschlagenen Preise sind hoch genug, um keine Energie zu verschwenden und sie vermindern nicht das Innovations- und Transformationstempo, welches weiter erhöht werden muss, um schnellstmöglich aus der Importabhängigkeit primär von Russland, aber auch von anderen Exporteuren fossiler Energie zu entkommen. Und wenn es aufgrund von Knappheit zu Abschaltungen kommen muss, dann bitte nach transparenten und nachvollziehbaren Kriterien – und warum nur in der Industrie? Damit hätte man klare Leitplanken und würde Sicherheit in den Markt zurückbringen – die mittelständische Industrie würde Zeit für den komplexen Transformationsprozess hin zum klimaneutralen Wirtschaften gewinnen. Auch bei diesem Thema steht sie leider nicht im Fokus: grüner Wasserstoff, CCU/CCS, CCFD und auch PPA sind aktuell Themen, die aktuell die Großindustrie und die Versorger betreffen.
Sehen Sie es auch so, dass der energieintensive Mittelstand mit seinen Interessen nicht ausreichend in Berlin vertreten ist? Führt uns das Sanktionsregime in einen Energienotstand, aus dem wir kurzfristig kaum herauskommen oder ist es alternativlos?