Es ist absehbar, dass der Klimaschutz spätestens dann, wenn Corona nicht mehr die Schlagzeilen beherrscht, erheblich an Bedeutung gewinnen wird. Themen wie der Green Deal der EU und die nationalen Klimaschutzziele werden dann einen zentralen Platz in der politischen Diskussion einnehmen. Klimaneutralität und „Net Zero“ bis spätestens 2045 bedeuten für alle Unternehmen, sich der Herausforderungen bewusst zu werden und individuelle Antworten zu geben.
Dipl.-Ing. Markus Schnier, Inhaber, ECOTEC Energie & Effizienz
Das Übereinkommen von Paris
Das letzte Jahrzehnt war noch von Diskussionen geprägt; die Auswirkungen auf das Verhalten und das Portemonnaie waren, von Härtefällen abgesehen, überschaubar. Die nächsten Jahrzehnte werden vieles auf den Kopf stellen. Das Ziel wurde 2015 durch die erste weltweite Klimaschutzvereinbarung, das Übereinkommen von Paris (ÜvP), definiert: Die Erderwärmung soll deutlich unter („well below“) 2 °C gehalten werden; der Temperaturanstieg soll durch weitere Maßnahmen auf 1,5 °C begrenzt werden. Hierzu haben die Vertragsparteien umfassende nationale Aktionspläne für die Reduzierung ihrer Emissionen vorgelegt (National Determined Contributions, NDC) – einziges Manko: die Umsetzung bleibt jedem Land selbst überlassen. Das Comeback der USA sorgt hingegen für zusätzlichen Rückenwind und deren Klimabeauftragter John Kerry hält die Verpflichtungen des ÜvP für nicht ausreichend.
Besonders der industrielle Sektor wird sich auf vielfältige Herausforderungen einstellen müssen. Der explosionsartig gestiegene CO2-Preis (EUA) ist ein Warnzeichen. Viele Produzenten müssen sich neu erfinden oder um ihren Fortbestand bangen. Diejenigen, die frühzeitig eine konsequente Strategie verfolgen und umsetzen, werden klare Wettbewerbsvorteile für sich verbuchen. Die Autoindustrie gibt einen Ausblick, was allen Branchen widerfährt: Mercedes-Benz treibt bis 2039 die CO2-Neutralität mit Nachdruck voran; mehr als 75 Prozent der 2.000 Lieferanten haben bereits erklärt, zukünftig nur noch CO2-neutrale Teile zu liefern. Aber was ist CO2-neutral?
Derzeit gibt es noch keine allgemeingültigen Definitionen: CO2-Neutralität ist nicht gleichbedeutend mit Treibhausgas- oder Klimaneutralität. Klimaneutralität bedeutet, dass durch einen Prozess oder eine Tätigkeit das Klima nicht beeinflusst wird. Treibhausgasneutralität bedeutet, dass keine Treibhausgase in die Atmosphäre abgegeben oder diese durch „Offsets“ kompensiert werden. CO2-Neutralität erhöht zwar nicht das CO2 in der Atmosphäre, lässt aber andere Treibhausgase wie Methan oder Lachgas beziehungsweise atmosphärische Effekte unberücksichtigt. Aktuell ist mit „Net Zero“ (Netto Null) ein Ziel für „Climate Leadership“ erkoren worden, das sich am 1,5 °C-Ziel ausrichtet und sehr strenge Anforderungen an die Maßnahmenauswahl, die Dokumentation sowie die Transparenz stellt. Wer von "Net Zero" spricht, sollte also in allen Belangen Vorreiter in Sachen Klimaschutz sein. Microsoft will bis 2030 sogar CO2-negativ sein, also mehr Kohlendioxid aus der Atmosphäre entfernen als verursachen, und darüber hinaus bis 2050 den gesamten Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernt haben, den es seit seiner Gründung im Jahr 1975 direkt (Scope 1) oder durch seinen Stromverbrauch indirekt (Scope 2) emittiert hat.
Unternehmen, die ihren CO2-Output nachvollziehbar mindern sowie klimaneutral (als Sammelbegriff für alle vorgenannten Ziele) werden wollen, müssen also große Aufgaben meistern. Daher gibt es auch immer mehr Organisationen, die auf den Markt drängen und Klimaschutzleistungen anbieten. Besonders der Bereich der Kompensation („Offsets“) erfährt aktuell starkes Wachstum. Umfassende Informationen und eine individuelle Klimastrategie sind daher für eine erfolgreiche Umsetzung im Unternehmen unabdingbar. Wie wird, falls noch nicht begonnen, der Anfang gemacht?
Erfassung der Treibhausgase
Das bei vielen Unternehmen vorhandene Energiemanagementsystem (EnMS) oder -audit bildet eine gute Grundlage, um sich unter Einbeziehung von Emissionsfaktoren einen ersten Überblick über die direkten (Scope 1) sowie die indirekten Emissionen (Scope 2; Strom- und Wärmelieferung) zu verschaffen. Darauf aufbauend, kann die an das Greenhouse Gas Protocol (GHG Protocol) angelehnte DIN EN ISO 14064-1 zur Bilanzierung der eigenen Emissionen und Erstellung des sogenannten Corporate Carbon Footprints (CCF) herangezogen werden. Je nach Unternehmen müssen zusätzlich die vor- und nachgelagerten Emissionen (Scope 3) zumindest teilweise erfasst werden. Die ISO 14068, die aktuell aus der britischen Norm BSI PAS 2060 übertragen wird, soll enthalten, welche Anforderungen für das Erreichen und Nachweisen der Treibhausgasneutralität erforderlich sind.
Reduzieren oder Einsparen im Sinne von Energie- beziehungsweise CO2-Effizienz ist das oberste Gebot. Viele Unternehmen gehen davon aus, ihre Potentiale mit den im Rahmen des EnMS untersuchten und umgesetzten Maßnahmen weitgehend ausgeschöpft zu haben. Das wird nicht ausreichen, so dass zukünftig auch die „high-hanging fruits“ geerntet und ganze Produktionsschritte in puncto CO2-Reduzierung neu gedacht werden müssen.
Da sich aber selbst bei größter Anstrengung nicht alle Emissionen reduzieren lassen, sind diese unter Einsatz Erneuerbarer Energieträgern zu vermeiden. Hier wiederum bestehen vielfältige Möglichkeiten; von einfachsten Maßnahmen (Umstieg auf zertifizierten Ökostrom) bis hin zu komplexeren Maßnahmen wie der Stromlieferung aus PPAs oder der Wärmeerzeugung aus Erneuerbaren Energien.
Einen von internationalen Klimaschutzorganisationen entwickelten Weg zur Klimaneutralität zeigt die „Science Based Targets Initiative“ (SBTI) auf. Dabei bemessen sich die Reduktionsziele nicht mehr an den Potentialen im Unternehmen, sondern an wissenschaftsbasierten (UN) Klimazielen beziehungsweise „planetaren Grenzen“. Zu den Zielen der SBTI bekennen sich viele internationale Unternehmen aus allen Sektoren (in Deutschland aktuell 18 Firmen, darunter Aurubis, Henkel, SAP und die Deutsche Telekom). Die Richtlinien verlangen – abgesehen von einigen energieintensiven Sektoren – eine Mindestreduktion pro Jahr von (absolut) 2,5 Prozent zur Einhaltung des < 2 °C-Ziels beziehungsweise 4,2 Prozent für das 1,5 °C-Ziel. Rechnerisch ergeben sich also 40 beziehungsweise 24 Jahre, bis Klimaneutralität ohne Kompensation erreicht ist. Die SBTI-Vorgaben werden immer mit dem letzten Jahr abgeglichen. Wer also „Low hanging fruits“ erntet – zum Beispiel eine Umstellung auf Ökostrom – sollte möglichst im Vorjahr seine erste Klimabilanz aufstellen, um von den mit der Umstellung verbundenen Reduktionen zu profitieren. Es darf auch nicht davon ausgegangen werden, dass die aktuell getroffenen Übereinkünfte ewig Bestand haben; sie werden explizit an die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse angepasst. Nicht nur bei den Reduktionszielen, sondern auch beim Einsatz von nahezu „klimaneutraler“ Biomasse als nichtfossilem Brennstoff zur Wärmeerzeugung muss gut abgewogen werden; im Gegensatz zu PV, Wind und Geothermie geht die Verfeuerung von Biomasse physikalisch mit CO2-Emissionen einher. Die Diskussion um die Klimaneutralität von Biomasse hat nicht nur wegen der begrenzten Biomassevorräte bereits an Fahrt gewonnen – eine höhere Nachfrage bei steigenden CO2- Kosten wird die Diskussion beschleunigen.
Als letzter Schritt zur Erreichung von Klimaneutralität sollen die verbleibenden CO2-Emissionen kompensiert werden. Vom Prinzip ganz einfach: jede nicht reduzier- beziehungsweise vermeidbare Tonne CO2 wird in einem Entwicklungsland eingespart oder langfristig gebunden und dann – gegen Geld dem Unternehmen als Zertifikat, zumeist als Verified Emission Reduction (VER), gutgeschrieben. Das Unternehmen lässt dann jedes Jahr die von ihm benötigte Menge an Zertifikaten entwerten.
Bei der Kompensation handelt es sich um einen freiwilligen Markt, der – im Gegensatz zum verpflichtenden CO2-Markt – nicht auf nationalen Gesetzen beruht. Neben den Befürwortern von Offsets gibt es auch Kritiker, die Kompensation als „greenwashing“ bezeichnen. Um dieser Kritik vorzubeugen und den Markt für Offsets voranzutreiben, haben sich untereinander vernetzte internationale Allianzen (IETA, ICROA) gebildet, die im Begriff sind, allgemein anzuerkennende Regeln und Standards für Klimaschutzprojekte (zum Beispiel Gold Standard, VCS) sowie Reduktionsziele (zum Beispiel SBT- und ACT-Initiative) zu etablieren. Ihre Mitglieder, die von NGOs über Energieversorger bis zu Banken sowie Projektentwicklern reichen, haben sich zu hoher Transparenz und Nachhaltigkeit verpflichtet. Nachhaltigkeit bedeutet, dass die angebotenen Klimaschutzprojekte den Social Development Goals (SDG) der UN entsprechen, also neben dem dokumentierten und zertifizierten CO2-Effekt auch bis zu 17 weitere Kriterien erfüllen, unter anderem die Bekämpfung von Hunger und Armut.
Der Rahmen, in dem sich die Projekte bewegen, ist aber im Umbruch. Die zukünftige Herausforderung der Kompensation wurde kürzlich in einer Veröffentlichung des Umweltbundesamtes (Climate Change 44/2020) beschrieben, die sich so zusammenfassen lässt: Mit dem ÜvP haben sich fast alle Staaten eigene Klimaschutzziele (NDCs) gegeben. In der Vergangenheit wurden Gutschriften für die CO2-Kompensation hauptsächlich durch Aktivitäten in Entwicklungsländern generiert, welche unter dem Kyoto-Protokoll keine THG-Emissionsziele hatten und diese Minderungen nicht für sich verbuchten. Unter dem ÜvP müssen jedoch alle Länder NDCs ausarbeiten und eine Doppelzählung bei der Bilanzierung gemäß Artikel 4.13 beziehungsweise bei der internationalen Übertragung von Minderungen gemäß Artikel 6 vermeiden. Da sich der freiwillige Markt aktuell in einer Größenordnung von circa 0,1 Prozent der globalen Emissionen bewegt, ist absehbar, dass der Markt bei einerseits steigender Nachfrage nach Kompensationsgutschriften sowie andererseits eingeschränktem Angebot schnell an seine Grenzen stößt. Bevor also in Kompensationsprojekte investiert wird, sollte sich jedes Unternehmen mit den aktuellen Regeln und wirtschaftlichen Details befassen. Der Preis für freiwillige Zertifikate hängt von der Qualität der Projekte ab, es handelt sich nicht um Commodities wie EUAs. Daher ist profunde Marktkenntnis sehr wichtig. Klar ist bereits jetzt: wer in Klimaschutzprojekte investiert, die einer detaillierten Prüfung nicht standhalten, und sich öffentlich als klimaneutral darstellt, muss mit Kritik rechnen.
Hohe Aufmerksamkeit erfährt aktuell der Markt des „Carbon (Dioxide) Removal“ (CDR) als „Negative Emission Technology“ (NET), also Technologien zur Rückholung von CO2 aus der Atmosphäre und Überführung des CO2 in permanente Kohlenstoffsenken. Dieser Technologie kommt nach Meinung vieler Wissenschaftler besondere Bedeutung zu, da sie davon ausgehen, dass alle Anstrengungen auf dem Weg zur Klimaneutralität nicht ausreichen, um die globalen Klimaziele einzuhalten und zusätzlich in großem Stil CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen ist. Prominente Unterstützer sind zum Beispiel Bill Gates im Bereich „Direct Air Capture (DAC)“-Technologien und Elon Musk, der mit „xprize“ einen 100-Millionen-Dollar-Wettbewerb zu CDR ausgelobt hat.
Zusammenfassung und Fazit
Immer mehr Unternehmen streben Klimaneutralität an (im engeren Sinne CO2-Neutralität). Der Markt befindet sich in der Orientierung, wächst aber stark. In der energieintensiven Industrie herrschen andere Voraussetzungen als in anderen Gesellschaftsbereichen. Die Unternehmen verfügen seit langem über Umwelt- sowie Energiemanagementsysteme und haben ihren produktspezifischen Energieeinsatz bezeihungsweise CO2-Output aus Compliance- und Kostengründen konsequent reduziert. Dies wird in schnellerem Tempo weitergehen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und den Anforderungen der Kunden gerecht zu werden. Klimabilanzierung und -strategie sind oder müssen ab sofort Chefsache sein, da aufgrund steigender CO2- Kosten sowie den Erwartungen der Stakeholder das Ergebnis und der Fortbestand des Unternehmens wesentlich von den richtigen Schritten abhängen.
Im Bereich CO2-Reduzierung beziehungsweise -Vermeidung sind internationale Initiativen im Begriff, neue Regeln zu etablieren und haben sich die Unterstützung zahlreicher namhafter Unternehmen gesichert. Der damit einhergehende Paradigmenwechsel besteht für die meisten Unternehmen darin, dass sich die CO2-Einsparziele nicht mehr an den betrieblichen Potentialen orientieren, sondern an den „planetaren Grenzen“. Beteiligte Unternehmen verpflichten sich diesen Zielen über einen „Commitment Letter“ und sind angehalten, der Öffentlichkeit jährlich transparent über ihre Fortschritte im „Race to zero“ zu berichten.
Noch wenig vertraut sind viele Unternehmen mit dem freiwilligen Kohlenstoffmarkt, der nach anderen Mechanismen funktioniert als der verpflichtende Markt. Er soll den Unternehmen die Möglichkeit geben, durch den Erwerb von CO2-Gutschriften - zumeist aus Klimaschutzprojekten in Entwicklungsländern - die nicht reduzier- beziehungsweise vermeidbare Restmenge an CO2 zu kompensieren, um sich „klimaneutral“ bezeichnen zu dürfen. Durch den Übergang vom Kyoto-Protokoll zum Übereinkommen von Paris ändern sich die Regeln, da mit dem ÜvP auch Entwicklungsländer nationale Treibhausgasminderungsziele (NDC) verfolgen. Damit verknappen sich einerseits die Potentiale für private Klimaschutzprojekte nachhaltig, andererseits ist ein hoher Nachfrageanstieg prognostizierbar, wenn die Industrie allgemein in die Kompensation einsteigt. Die „Taskforce on Scaling Voluntary Carbon Markets“ (circa 50 Mitglieder von BlackRock bis White & Case zuzüglich circa 150 Beobachter und Berater – zumeist Projektentwickler) ist bereits aktiv: „The Taskforce’s roadmap ensures that the right market infrastructure and financial instruments are in place to facilitate the movement of tens of billions of dollars from those seeking to reduce their own carbon footprint to those who can reduce and remove carbon from the atmosphere.”, so Bill Winters, Vorsitzender der Initiative und CEO von Standard Chartered, London. Bei der nächsten Klimakonferenz COP 26 in Glasgow wird dieses Thema ein Schwerpunkt.
Das Bekenntnis zur Klimaneutralität ist nur der erste Schritt – die Stakeholder erwarten, dass sie fortlaufend über die Ziele beziehungsweise Fortschritte informiert werden. Jedes Unternehmen sollte sich bewusst sein, dass es weder ein Zurück noch einen „Projektabschluss“ im klassischen Sinn gibt. Die Regeln in den Feldern Klimaneutralität und Kohlenstoffmärkte unterliegen einer starken Dynamik, die aufmerksam beobachtet werden muss. Unabhängig davon gilt: CO2-Bilanz und Strategie erstellen sowie an den wichtigsten Zielen arbeiten - CO2 einsparen und vermeiden!