Die nicht mehr ganz Jungen unter uns können sich noch an die „guten alten Zeiten“ der Gaswirtschaft erinnern. Zur Auffrischung ein Nachruf, verbunden mit einem Ausblick auf das, was uns erwartet:
Bis ca. 2010 galt das Prinzip der Anlegbarkeit, der Preis für Erdgas orientierte sich an der Wärmeäquivalenz von leichtem Heizöl für kleine und mittlere Verbraucher (relativ teuer), von schwerem Heizöl für große Industriebetriebe (günstig) und von Kohle für größte Verbraucher (z. B. Kraftwerke). Jeder in der Lieferkette hatte seinen Erlös pro kWh, die Kunden mussten nicht jeden Tag die EEX-Preise nachsehen - alles lief nach kalkulierbaren Regeln und mit hoher Versorgungsicherheit. Die Gasversorgung war diversifiziert, die Briten und die Niederlande hatten noch genügend Erdgasfelder, die Eigenförderung in Deutschland war noch nicht unbedeutend und die russischen Anteile an der Versorgung bei unter einem Drittel.
Ab 2010 brach dieses System auseinander. Der Börsenpreis ersetzte die Wärmeäquivalenz, durch Fracking wurden die USA vom Erdgasimporteur zum -exporteur; vom folgenden globalen Wettbewerb profitierten alle Verbraucher durch günstige Erdgaspreise, besonders die mittelgroßen Verbraucher. Der Spotmarkt war im Schnitt billiger als der Terminmarkt, langfristige Verträge mit den Importeuren wurden zunehmend durch kurzfristige Vereinbarungen ersetzt, auch aufgrund des eingeläuteten Endes des fossilen Zeitalters.
Das Coronajahr 2020 führte aufgrund des milden Winters mit vollen Speichern und Nachfragerückgang zu (Spott-) preisen, die unterhalb der Produktionskosten lagen; jeder, der im Spot beschaffte, wähnte sich auf der Sonnenseite. Erste Vorboten einer Veränderung erreichten den Markt mit dem Sanktionsdruck der USA auf Nord Stream 2 – von einer scheiternden Inbetriebnahme ist aber kaum jemand ausgegangen. Die seit Sommer wieder anziehende Konjunktur in Asien und der Einsatz in der Verstromung zog LNG-Mengen vom Markt. Erstaunlicherweise konnte der Preis auch wieder steigen.
Der Winter 20/21 war entgegen der beiden Vorherigen lang und kalt - Ende April waren die Speicher leer. Der Ausgangspunkt für eine bis dahin noch nicht erlebte Preisralley an den Märkten. Die parallel steigenden CO2-Preise verdrängten Kohle in der Stromerzeugung und sogen den Gasmarkt leer. Gleichzeitig schickte Gazprom kein Gas durch die Ukraine und über die anderen Leitungen keine zusätzlichen Mengen über die bereits eingegangenen Lieferverpflichtungen hinaus. In der Konsequenz haben wir am 1. Juli auf „die noch günstige Gelegenheit“ hingewiesen, die Eindeckung für 2023 zu 20 €/MWh und 2024 zu 18 €/MWh zu erwägen, um am langen Ende abzusichern.
Im Herbst eskalierte die Lage weiter, befeuert durch den von Spekulanten angefachten Preisauftrieb für CO2 sowie andere Commodities, auch Kohle. „Eine schrittweise Absicherung ist ratsam, ein hoher Spotanteil bzw. die kurzfristige Eindeckung von unterjährigen Produkten im Jahr 2022 bergen Risiken“, lautete unsere Einschätzung.
Womit wir in der Gegenwart eingetroffen sind. Nach der Verkündung des Kremls, Gas nur noch gegen rollenden Rubel zu liefern, erfolgte prompt der nächste Aufschrei in den Medien mit dem wohlgemeinten Hinweis, Putin möge sich an seine Verträge halten. Politiker, Volkswirtschaftler und andere Experten, die bisher nicht am Gasmarkt in Erscheinung getreten sind und die sich zu profilieren versuchen, raten der Bundesregierung, die russischen Importe zu kappen und vertreten die Meinung, die Auswirkungen seien beherrschbar. Auch wir würden eine Importunterbrechung befürworten, wenn dadurch der Krieg und das Leid in der Ukraine gestoppt werden. Aber ob dies dazu führt und die für uns nicht absehbaren Folgen größeren Schaden anrichten, kann niemand voraussagen.
Mittlerweile rechnen auch der BDEW und der VKU, einst die altehrwürdigen Interessenvertretungen der Lieferketten-Versorger, mit einem Lieferstopp und fordern eine Abschaltreihenfolge für „ungeschützte“ (d. h. unwichtige) Industriekunden sowie die Ausrufung der Frühwarnstufe. Die Bundesregierung wiegelt noch ab. Vermutlich aber nicht mehr lange und wenn dies passiert, werden vermutlich auch die Alarm- und die Notfallstufe folgen. Unsere Brille ist die des großen Letztverbrauchers, der sich dann mit einem Versorgungsengpass konfrontiert sieht – bis zur kompletten Abschaltung. Aus dieser Perspektive versuchen wir uns einem hoffentlich ausbleibenden, fiktiven Szenario einer Versorgungsunterbrechung anzunähern:
- Russland unterbricht sämtliche Gaslieferungen in die EU, über 45 Mrd. m³/a bzw. 50 % fallen allein in Deutschland weg. Das Thema überschattet in den Medien alles, selbst die Ukraine. Der Speicherfüllstand liegt bei ca. 25 %, der Spotmarktpreis steigt von ca. 110 €/MWh noch einmal deutlich. Besonders die großen Industriekunden, die überwiegend am Spotmarkt beschaffen, sehen ihren finanziellen Spielraum schwinden und müssen überlegen, den Betrieb einzustellen. Die Terminmarktpreise folgen, auch die weiter entfernt liegenden Jahre erreichen neue Sphären. Die Energievertriebe, die sich gerade wieder sortiert haben und an den Markt wollen, stellen den Betrieb wieder ein.
- Die Regierung und die Medien beschwichtigen, dass wir das schaffen. Unterbrechbare Kunden werden abgeschaltet, unwichtige Industriekunden werden auf „mögliche“ Abschaltungen vorbereitet. Die Wichtigen erhalten bei Bedarf unbegrenzte Mittel von der KfW, ohne Sicherheiten hinterlegen zu müssen. Alte Braunkohlekraftwerke und -tagebaue werden ausgemottet und hochgefahren. Gaskraftwerke dürfen nur noch in Stromknappheitssituationen betrieben werden – hoffentlich bleibt der Gasdruck im Netz hoch genug, denn bei Ausfall der Erdgaskraftwerke als wichtige Regelgröße für die Frequenz des Stromnetzes kann sonst auch noch das Stromnetz zusammenbrechen – der GAU. Die Atommeiler in der EU fahren bereits auf Hochtouren. Besonders die von russischen Lieferungen abhängigen Lieferanten rufen um Hilfe, weil sie die bereits günstig verkauften Mengen am Markt nachbeschaffen müssen. Vielen Energielieferanten droht die Pleite. Ein Rettungsschirm wird aufgespannt.
- Die EU mahnt die Mitgliedsstaaten zur Solidarität und dass sich keine nationalen Egoismen bei der Erdgasbeschaffung entwickeln dürfen (wie sie im Rahmen des Katarbesuchs von Minister Habeck bereits moniert wurden). Derweil sichern sich andere Staaten bereits Mengen am global ausverkauften LNG-Markt und treiben den Preis weiter. Auch die USA freuen sich über die zusätzlichen Einnahmen, am Henry-Hub klettert der Preis geringfügig von 15 auf 20 €/MWh und verschafft der dortigen Wirtschaft einen riesigen Wettbewerbsvorteil gegenüber der EU.
- Die hiesigen Gasspeicher werden faktisch enteignet. Um die vorgesehenen 90 % Füllstand zu erreichen, muss das Erdgas auf internationalen Märkten zu Höchstpreisen eingekauft werden. LNG-Tanker stauen sich vor europäischen Häfen, nur nicht in Deutschland. Wir haben keine LNG-Terminals – frühestens 2025. Die Kosten werden auf alle Verbraucher umgelegt.
- Die gasreichen Länder des Nahen Ostens, in denen das Handeln auf orientalischen Großmärkten erlernt wird, bieten der EU als Retter in der Not LNG-Langfristlieferverträge deutlich über Marktpreis an (Begründung: die Investitionen in zusätzliche Erdgasfelder müssen abgesichert werden).
- In Anbetracht der drohenden Knappheit werden die Abschaltpläne für unwichtige Industriekunden sukzessive umgesetzt, auch aufgrund von Lieferkettenproblemen müssen viele direkt betroffene Betrieb in Kurzarbeit gehen. Die Preise für Heizöl und Diesel explodieren, weil immer mehr Verbraucher auf Heizöl umstellen oder eine neue Heizölversorgung aufbauen. Betriebe, die von Kohle auf Gas umsteigen wollten, revidieren ihre Pläne. Die CO2-Emissionen steigen nach 2021 im Jahr 2022 erneut - auf über 800 Mio. t/a.
- Selbst die größten Importeure können die Finanzvolumina zur Absicherung der Lieferverträge bei den Extrempreisen nicht stemmen. Als Garantiegeber muss die EU über ein Sondervermögen einspringen und haftet für mögliche Ausfälle.
- Die USA liefern 15 Mrd. m³ LNG nach Europa, um die bisherigen LNG-Mengen aus Russland zu ersetzen. Das russische LNG wird in Asien günstig eingekauft und die bereits teuer in Katar etc. bestellten Mengen werden von den dankbaren Abnehmern (z. B. die EU) aufgekauft. China und andere Nachbarstaaten Russlands schließen langfristige, günstige Erdgaslieferverträge mit Russland. Im Gegenzug erhält Russland von China massive Finanzhilfen und kann einen Staatsbankrott, der Putin zu Fall bringen könnte, abwenden.
Stopp! Alles zu negativ? Die beiden letzten Jahre haben gezeigt, dass sich die Lage immer weiter zugespitzt hat. Wenn wir es mit unserem zugegeben pessimistischen Ausblick geschafft haben, die Meldungen in den Medien besser einzusortieren und Sie bei Ihrer gedanklichen Vorbereitung auf dieses zumindest nicht unmögliche Szenario zu unterstützen, haben wir unser Ziel erreicht. Wir hoffen, dass es für uns alle besser kommt, und halten Sie über die Entwicklung auf dem Laufenden. Vor allem hoffen wir aber auf ein Ende des Krieges in der Ukraine!